Zeitzeugen gesucht

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Umerziehung in

Spezialheimen

In den Spezialheimen kamen autoritäre und repressive Methoden zur Anwendung, um die sozialistische „Umerziehung“ von Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Die Heimkinder sollten mit Härte in kritiklose Menschen umgeformt werden, die den Sozialismus in der DDR widerspruchslos bejahten und sich aktiv an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft beteiligten.
Wer sich nicht unterordnete, wurde hart bestraft. Neben den Strafen waren die wesentlichen Säulen der Erziehung in den DDR-Spezialheimen: die Kollektiverziehung, die Arbeitserziehung, die Disziplinierung, die ideologische Erziehung und der vormilitärische Drill.

Umerziehung war das erklärte Ziel der Erziehung in den DDR-Spezialheimen

Das Bewusstsein und die Psyche der Heimkinder sollten im Sinne des Sozialismus neu geformt werden. Disziplin, Drill, ständige Kontrolle und Überwachung, Strafen und Beeinflussung waren die Mittel dafür. Die Heimkinder hatten zu lernen, sich widerspruchslos dem sozialistischen Kollektiv zu fügen. Die Überzeugungen, Normen und Verhaltensweisen der sozialistischen Gesellschaft sollten sie im Spezialheim verinnerlichen. Ihre Individualität wurde als hinderlich abgewertet, d.h. ihr individueller Wille und ihre eigenen Bedürfnisse sollten weitgehend ausgeschaltet werden.
Die entscheidende Methode dieser Umformung war die sogenannte Kollektiverziehung. Der Ansatz ging auf den sowjetischen Pädagogen A. S. Makarenko zurück. Aus dem sozialistischen Kollektiv einer Gruppe von Heimkindern durfte niemand ausscheren, jeder hatte sich dem Kollektiv bedingungslos zu beugen. Leistungen und Wettbewerb standen im Kollektiv im Vordergrund. Die Gruppe war hierarchisch aufgebaut, es herrschte eine feste Rangordnung nach dem Grad der Anpassung: von den besonders willigen, bereits disziplinierten Kindern und Jugendlichen – die Kerngruppe des „Aktivs“ mitsamt dem Leiter und den Funktionären – über die noch zu formenden Heimkinder bis hin zu den Außenseitern.
Die Kollektiverziehung diente dazu, den individuellen Willen der Heimkinder zur Selbstbestimmung zu brechen. In den Augen der DDR-Jugendhilfe lag der wesentliche Grund für die angebliche „Schwererziehbarkeit“ eines Kindes darin, dass sein individuelles Verhalten zu stark ausgeprägt war. Richteten sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht nach den kollektiven Werten und Forderungen des sozialistischen Staates, dann galt dies als „Individualismus“, der nicht geduldet werden konnte.

Individualität wurde als „psychische Besonderheit“, d. h. wie eine psychische Störung angesehen. Sie galt als Ergebnis einer falschen Erziehung.

So formulierte es 1974 Eberhard Mannschatz, der Funktionär und Cheftheoretiker der DDR-Heimerziehung. Ein wichtiger Bestandteil im Konzept der Kollektiverziehung war die Erziehung der Heimkinder untereinander. Sie hieß „Selbst- und gegenseitige Erziehung“. In der Realität bestand sie in der Überwachung und Drangsalierung der Heimkinder untereinander. Bestrafungen eines einzelnen Heimkindes wurden oft vom ganzen Kollektiv beschlossen. Häufig hatte auch die gesamte Gruppe die Strafe für individuelles Fehlverhalten zu tragen. Die Gruppe rächte sich ihrerseits mit Prügel oder anderen Misshandlungen an dem Einzelnen. Dieses Vorgehen wurde von den Erziehern geduldet.
Die Arbeitserziehung war die zweite wichtige Erziehungsmethode in den Spezialheimen. Erziehung „zur Arbeit durch Arbeit“, lautete der Ansatz. Auch dieses Prinzip stand im Dienste des Sozialismus: Arbeit galt in der DDR als gesellschaftliche Verpflichtung; die sogenannte „Arbeitsbummelei“ wurde als asoziales und staatsfeindliches Verhalten bestraft.
In der Praxis waren die Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten der Jugendlichen in den Jugendwerkhöfen den wirtschaftlichen Zielen und Zwängen angepasst. Meist waren sie billige Arbeitskräfte mit geringer Entlohnung in naheliegenden Produktionsbetrieben oder in den eigenen Werk- und Produktionsstätten der Jugendwerkhöfe.
Über monotone Arbeiten und einfache Tätigkeiten ging die Arbeit nie hinaus. Nach Abschluss einer Ausbildung waren die Jugendlichen höchstens Teilfacharbeiter. Damit hatten sie später auf dem Arbeitsmarkt keine brauchbare Qualifikation vorzuweisen. In den Durchgangsheimen arbeiteten die Jugendlichen in den umliegenden Betrieben. Die Heime finanzierten sich über die Löhne, die nicht an die Jugendlichen weitergegeben wurden. Darüber hinaus wurden die Kinder und Jugendlichen zu einer Fülle von weiteren Arbeiten in den Spezialheimen herangezogen. Nach der Schule, nach der Arbeit oder am Wochenende mussten sie – unbezahlte – Arbeitseinsätze zum Beispiel bei der Ernte leisten. Täglich hatten sie in den Spezialheimen zu putzen, zu waschen, Gartenarbeiten auszuführen, Kohlen zu schleppen und viele andere Arbeiten auszuführen. Einerseits diente das harte tagtägliche Pensum der Einübung von Disziplin. Gleichzeitig waren sie dadurch andauernd beschäftigt. Auf diese Weise wurde verhindert, dass sie Zeit zur eigenen Verfügung hatten. Zudem konnte Personal eingespart werden.
Die Erziehung zur Disziplin war die dritte wichtige Methode in den DDR-Spezialheimen. In der gesamten Pädagogik der DDR stellte „Disziplin“ eine zentrale Kategorie dar. Sie diente jedoch ideologischen Zwecken.

Disziplin bedeutete die widerspruchslose Unterordnung unter die Ziele des sozialistischen Staates.

Zuerst sollte die „passive Disziplin“ der Heimkinder erreicht werden. Das bedeutete, dass sie Verhaltensweisen wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung und Gehorsam durch täglichen Drill als feste Gewohnheiten übernahmen. Als zweiter Schritt folgte in diesem Konzept die „bewusste Disziplin“. Sie war erreicht, wenn die Heimkinder das geforderte disziplinierte Verhalten so tief verinnerlicht hatten, dass kein Zwang mehr nötig war.
Die ideologische Erziehung zu einer festen sozialistischen Haltung der Kinder und Jugendlichen war unabdingbarer Bestandteil des Alltags in den Spezialheimen. Sie wurde als besonders wichtig angesehen. Der Cheftheoretiker der DDR-Heimerziehung, Eberhard Mannschatz, hatte 1961 sogar formuliert, die Erziehungsarbeit in den Jugendwerkhöfen sei „in erster Linie politisch ideologische Erziehungsarbeit“.
Dementsprechend waren der Tagesablauf und der – wenige – Schulunterricht der Heimkinder von politischer Beeinflussung durchdrungen. Unterschiedliche politische Positionen wurden den Kindern und Jugendlichen dabei nicht gezeigt. Sie sollten dazu gebracht werden, nur eine einzige politische Meinung zu übernehmen: die kritiklose Bejahung des Sozialismus.
Zum Heimalltag gehörten nicht nur die tägliche gemeinsame, linientreue Auswertung der Zeitung und der DDR-Nachrichtensendung „Die aktuelle Kamera“, sondern auch regelmäßige FDJ-Versammlungen. Politische Fernsehsendungen des Staatsfernsehens mussten gemeinsam angesehen und ausgewertet werden, es gab Filmvorführungen, politische Diskussionen und andere ideologisch ausgerichtete Veranstaltungen. Staatsbürgerkunde nahm einen großen Platz im schulischen Bereich ein. Die Erzieher hatten sich als „bewusste politische Kämpfer“ zu verstehen, wie es im Jahresarbeitsplan des Jugendwerkhofs Wolfersdorf 1971/72 gefordert war .
Zu den Erziehungsmethoden in den DDR-Spezialheimen gehörte auch der militärische Drill im Alltag. Er sollte die Einübung von Disziplin befördern und gleichzeitig die militärische Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes als selbstverständlich anerziehen. Der Heimalltag war streng durchorganisiert und von militärischen Verhaltenselementen durchsetzt. Dazu gehörten beispielsweise Morgenappelle in strammer Haltung nach dem Aufstehen, Fahnenappelle, militärahnliche Sportübungen, das Antreten in Reih und Glied, die Ausgabe von Tagesbefehlen, die genauen Vorschriften für das Zusammenlegen der Kleidung und vieles mehr. In manchen Jugendwerkhöfen mussten die Heimkinder sich in Kolonne bewegen, in anderen immer alles zusammen erledigen. Teilweise erhielten die Jugendlichen in Form der Wehrerziehung eine vormilitärische Ausbildung.

Alltag

im Spezialheim

„Umerziehung“ bedeutete für die Heimkinder, tagtäglich Zwang und Überwältigung zu erleben. Sie waren in den Heimen von der Außenwelt weitgehend isoliert. Die Lebensbedingungen waren schlecht, im Alltag herrschte Drill. Demütigungen vor aller Augen, Gruppenstrafen und Arrest schüchterten die Kinder und Jugendlichen ein und machten sie gefügig. Nicht wenige versuchten, aus dem Heim zu entfliehen.
Disziplin, Arbeit und die Unterordnung unter das sozialistische Kollektiv spielten die zentrale Rolle in den Spezialheimen.

Der Tagesablauf im Heim war monoton und streng geregelt, damit Disziplin eingeübt wurde: Morgenappell, Schule, Arbeit, Erledigung von Aufgaben und Ämtern im Heim, Nachtruhe.

Zur „Selbsterziehung“ der Heimkinder gehörten gegenseitige Prügel und Misshandlungen. Die Erzieher tolerierten diese Demütigungen und gewaltvollen Übergriffe zur eigenen Arbeitsentlastung und förderten sie in manchen Fällen sogar. Gewaltanwendung gehörte auch zur Strafpraxis der Erzieher, obwohl sie gesetzlich verboten war. Ohrfeigen und Schläge kamen dennoch häufig vor.
Briefe wurden vor dem Versand von den Erziehern gelesen, persönliche Gegenstände waren in unverschlossenen Fächern aufzubewahren. Hinzu kamen scharfe Kontrollen, ideologische Schulungen und harte Strafen wie Arrest. Abwechslung, Rückzugsmöglichkeiten und Verständnis gab es kaum. Erst ab dem Alter von 16 Jahren bekamen Jugendliche in Ausnahmefällen die Erlaubnis, das Heim einmal in der Woche zu verlassen. Die Zahl der Jugendlichen, die diesen Verhältnissen in den Jugendwerkhöfen zu entfliehen versuchten, war hoch.
Kollektiverziehung bedeutete im Heimalltag auch, dass viele Aufgaben und Tätigkeiten von der gesamten Gruppe geschlossen ausgeführt werden mussten. Sie galten erst als erledigt, wenn alle damit fertig waren. So hatten zum Beispiel die Heimkinder in einigen Heimen in militärischer Haltung abzuwarten, bis sich auch der Letzte gewaschen hatte. Dann erst durften sie dazu übergehen, sich anzuziehen. Auch das musste wieder gemeinsam ausgeführt werden.

Die schlimmste Strafe für die Heimkinder war der „Arrest“.

Er war eine Isolationshaft: Stunden oder mehrere Tage mussten die betroffenen Kinder und Jugendlichen allein in einer Zelle verbringen. Es war vorgeschrieben, dass dieser Raum vergittert war und keine Blicke nach draußen zuließ. Die Tür musste schalldicht sein und einen Spion haben. In dem Raum durfte nicht mehr sein als ein Bett, das tagsüber hochgeklappt wurde, ein Hocker und ein Klapptisch. Ein Kübel diente als Toilette. Auch Verschläge auf Dachböden oder Kellerräume wurden als Arrestzellen genutzt. Die Arreststrafe erhielten die Heimkinder zum Beispiel, wenn sie versucht hatten, dem Heim zu entfliehen. Im Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau mussten sie den Arrest zeitweise in Dunkelzellen oder körperlich eingeengt in einem kleinen, nur halbhohen Raum, im sogenannten Fuchsbau, verbringen.
In allen DDR-Heimen, egal ob Normal- oder Spezialheim, hatten die Heimkinder unter unzureichenden Lebensbedingungen zu leiden. Viele Gebäude waren alt, der bauliche Zustand und die materielle Ausstattung waren mangelhaft. Zudem fehlten Heimplätze in großer Zahl, so dass die Überbelegung hoch war, und es mangelte an Personal. Diese Situation änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nicht wesentlich.

Eine Kontrollkommission sprach 1974 von einem „unwürdigen baulichen Zustand“ vieler Heime, von „ungeeignetem Mobiliar“ und von „unzureichende[n] … oder nicht funktionstüchtige[n] Sanitäranlagen“.

Erzieher

Als Erzieher in einem DDR-Spezialheim zu arbeiten, war kein sonderlich beliebter Beruf. Die Heime lagen oft einsam auf dem Land, der Verdienst war geringer als in anderen pädagogischen Berufen und nicht selten musste im Schichtdienst gearbeitet werden. Eine große Zahl der Erzieher in den Spezialheimen war unterqualifiziert, wenig motiviert und überfordert.
Wegen des Personalmangels setzte die Jugendhilfe viele Erzieher in den Spezialheimen ein, die für diesen Beruf wenig oder gar nicht qualifiziert waren. In den 1960er Jahren wurden sogar ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee in den Heimen eingesetzt. Lehrer erhielten Strafversetzungen in die Heime, in den späteren Jahren wurden Pädagogen nach Abschluss ihres Studiums als sogenannte Absolventen zwangsweise für drei Jahre als Heimerzieher verpflichtet. Der Anteil der beruflich unerfahrenen Kräfte unter den Erziehern lag in einzelnen Spezialheimen bei mehr als 50 Prozent.
Viele andere Erzieher verfügten nur über pädagogische Kurzausbildungen. Ein Teil von ihnen war in ein Spezialheim versetzt worden, weil sie sich an anderer Stelle als ungeeignet erwiesen hatten oder wegen Gewalttätigkeiten oder sexuellen Delikten an ihren Schutzbefohlenen aufgefallen waren.
Für die Heimkinder brachte diese Situation schlechte Bedingungen mit sich. Die Fluktuation unter den Erziehern war hoch, sodass sie häufig ihre Bezugspersonen verloren. Zudem hatten die einzelnen Pädagogen große Gruppen zu betreuen – einer Gruppe konnten bis zu 25 Heimkinder angehören – und waren ständig überlastet. Sie griffen deshalb schnell zu Bestrafungen oder überließen dem „Kollektiv“ der Heimkinder die sogenannte Selbsterziehung, die Maßregelung untereinander.

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