Zeitzeugen gesucht

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Zeitzeugen gesucht

Bernd K.

„ich war auf mich gestellt“
„da hatte ich eine Stinkwut auf meine Eltern“
Geboren 1950 in Friedersdorf, nahe Bitterfeld. Beide Eltern sind berufstätig. Als er zehn ist, zieht seine große Schwester aus. Bernd ist sehr oft allein.
Er schwänzt den Unterricht und kümmert sich nicht um seine Hausaufgaben. Statt zu lernen und den Erfolg im Klassenzimmer zu suchen, stellt sich Bernd seinen eigenen Herausforderungen. Schulische Probleme sind die Folge.
Regelmäßig äußern sich Lehrer abfällig vor der Klasse über Bernd und kritisieren seine Disziplinverstöße. Diesen einen Satz wird er nie vergessen: „hier guckt euch dieses Individuum an, früher hat man so etwas auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
Die Versuche, durch mehrere Schulwechsel das Verhalten des Jungen wieder auf Linie zu bringen, scheitern. In ihrer Verzweiflung wenden sich die Eltern 1964 an die Jugendhilfe der DDR. Der Staat soll die Erziehung übernehmen.
Im Februar 1965 wird Bernd in das Spezialkinderheim „Ernst Schneller“ nach Eilenburg eingewiesen. Er empfindet die Situation verstörend und versteht den Grund seiner Einweisung nicht. Es gefällt ihm nicht.
„nach acht Tagen habe ich gedacht: das ist doch nicht wie im Ferienlager hier“
Er entschließt sich aus Eilenburg zu fliehen. Per Anhalter schafft er es zu seiner Schwester ins nahegelegene Laußig. Ihr Mann ist bei der Volkspolizei und veranlasst gemeinsam mit den Eltern die Rückführung von Bernd ins Heim. Er fühlt sich im Stich gelassen.
In Eilenburg angekommen, wird Bernd sofort in einem Kellerraum arrestiert. Die Fenster sind vergittert. Nach einem Tag hält er es nicht mehr aus. Mit einer rumliegenden Holztafel zerstört er die Glasscheibe der Tür und kann fliehen. Per Anhalter schafft er es zu seinen Eltern. Sein Vater, ein SED-Parteifunktionär, bringt ihn unmittelbar nach Eilenburg zurück. Nach einem Gespräch mit dem Heimleiter kommt der Vater für den Schaden im Keller auf und nimmt Bernd wieder mit nach Hause. Hier beendet er die Schule mit dem Abschluss der 8. Klasse.
Ohne Ankündigung wird Bernd nach zwei Tagen Sommerferien im Juli 1965 von Mitarbeitern der Jugendhilfe zuhause abgeholt und in den Jugendwerkhof Reinsdorf gebracht. Den Grund seiner Einweisung erfährt er nicht. Jugendwerkhöfe sind ihm bis dahin unbekannt.
Als Bernd bewusst wird, dass er sich in einer politisch-ideologischen Umerziehungsanstalt befindet, bekommt er Angst. Die Zustände hier sind erdrückend. Der rigide Alltag und das Gefühl, grundlos eingesperrt zu sein, zermürben ihn.
Wieder flieht Bernd. Die erneute Flucht verschlimmert seine Situation. Vom offenen Jugendwerkhof in Reinsdorf wird er im August 1965 in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gebracht. Hier sind die Zustände schlimmer. Der Alltag ist geprägt von Schikane, Unterdrückung und Gewalt.
„Jetzt bin ich im Knast. Jetzt hast du es echt geschafft K.!“
„deswegen haben wir gesagt, da gehen wir lieber in den Knast“
Nach vier Monaten wird Bernd wieder zurück nach Reinsdorf verlegt. Nach einem dummen Jungenstreich müssen er und vier weitere Jungen sich in der Heimversammlung rechtfertigen. Aus Angst wieder nach Torgau verlegt zu werden, entschließt er sich mit einem anderen Insassen aus der DDR zu fliehen.
Die Flucht misslingt. Er kommt in die Untersuchungshaft nach Wismar. Gezielt äußert er sich negativ über das DDR-System und gesteht die versuchte Republikflucht ein. Hauptsache nicht wieder nach Torgau.
Bernd wird zu 14 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Ab Juni 1966 muss er die Haft im Jugendstrafvollzug Dessau absitzen. Die Zeit ist vor allem von Arbeit geprägt. Bernd verrichtet Hilfsarbeiten. Er schließt hier eine Teilausbildung zum Landmaschinen-Schlosser ab. Er ist lieber im Gefängnis als ein zweites Mal in Torgau.
Nach der Haft vermittelt ihm sein Vater 1967 eine Stelle im Chemiekombinat Bitterfeld. Hier beendet er auf der Abendschule eine Ausbildung zum Anlagenfahrer. Ab 1969 stellt er hochgefährliche Schädlingsbekämpfungsmittel (Bi58) her. Noch im selben Jahr verätzt er sich während der Arbeit die Augen. Nach seiner Genesung entschließt sich Bernd den Beruf zu wechseln.
Noch 1969 fängt er bei der Werkbahn des Chemiekombinates an und wechselt 1973 zur Deutschen Reichsbahn. 1975 heiratet er. Die Ehe wird schon ein Jahr später geschieden. Auf Anordnung der DDR-Jugendhilfe darf er seine Tochter nicht sehen. Seine Vergangenheit holt ihn ein.

Bis 1977 arbeitet Bernd im Reichbahnkraftwerk Muldenstein. Im gleichen Jahr heiratet er seine heutige Frau. Mit ihr hat er zwei Kinder. Beide arbeiten bei der Deutschen Reichsbahn in Herrenhut. Auf der Abendschule holen beide den Facharbeiter für Eisenbahntransporttechnik nach und machen den Abschluss zum Fahrdienstleiter. Als sich Bernd 1987 bei der Transportpolizei bewirbt, wird er aufgrund seiner Republikflucht in den 1960er Jahren abgelehnt. Er ist schockiert.

1990 bis 2005 arbeitet er als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn in Großbothen. Er nutzt das Angebot seines Arbeitgebers und geht 2006 in den Vorruhestand. Heute lebt er in einer sächsischen Kleinstadt, ist Rentner und verbringt viel Zeit mit seiner Familie und den Enkelkindern.
„einen Mord kann man unter den Teppich kehren, aber so etwas nicht“

Bernd K. im Alter von 4 Jahren.

Im August 1957 wird Bernd K. eingeschult.

Das Foto entsteht anlässlich der Jugendweihe von Bernd K. im April 1965.

Bernd K. als Wehrdienstleistender bei der NVA zu Beginn der 1970er Jahre.

Bernd K. im Kreise seiner Familie mit Kindern und Ehefrau, 1977.

Von 1990 bis 2005 arbeitet Bernd K. als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn. Hier ist er an seinem Arbeitsplatz, 2001.

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