Zeitzeugen gesucht

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Zeitzeugen gesucht

Ilona E.

„irgendwie war ich immer die Böse“
ilona
„leck mich doch am Arsch, weg war ich“
Geboren 1960 in Mecklenburg-Vorpommern. Als Ältestes von sieben Kindern muss sie zuhause früh Verantwortung übernehmen. Der Stiefvater arbeitet im staatlichen Forstbetrieb, die Mutter in einem Obst- und Gemüselager. Kaum Freizeit, viel Arbeit. Zudem lebt Ilona in ständiger Angst vor den sexuellen Übergriffen des alkoholkranken und gewalttätigen Stiefvaters.
Ilona flieht mehrmals von zuhause. Mit 13 greift sie die Volkspolizei auf. Sie verweigert die Rückkehr zu den Eltern und fordert ihre eigene Heimeinweisung.
Im Normalkinderheim in Mecklenburg-Vorpommern fühlt sie sich erstmals geborgen, findet Ruhe und genießt ihre Kindheit. Später erfährt sie, dass der Geografielehrer ihr leiblicher Vater ist. Er missachtet jedoch seine leibliche Tochter. Nun beginnt auch noch der Stiefvater in der Nähe des Heims zu arbeiten. Für Ilona zu viel. Enttäuscht von dem einen und aus Furcht vor dem anderen flieht sie.
Im November 1975 kommt Ilona für acht Wochen ins Durchgangsheim nach Schwerin. Sie ist froh, weit weg zu sein. Durch die Arbeit findet sie hier eine willkommene Ablenkung. Als sie merkt, dass sie eingesperrt ist, flüchtet sie erneut.
Daraufhin wird Ilona am 5. Januar 1976 in den Jugendwerkhof Wolfersdorf eingeliefert. Sie lebt sich schnell ein. Jeden Tag das gleiche: Putzen, Waschen, Bügeln, Nähen und zwischendurch militärischer Drill und politische Indoktrination. Eigentlich fühlt sie sich hier wohl. Doch der Drang nach Freiheit lässt sie immer wieder fliehen.
Das ist der Heimleitung in Wolfersdorf zu viel. Nur in Torgau sind die Mauern hoch genug. Am 26. Januar wird Ilona das erste Mal in den Geschlossenen Jugendwerkhof eingewiesen. Ihre Freiheit endet hier.
„mein erster Gedanke: Hier kommst du nicht raus!“
Ein unwürdiger Umgang mit den Jugendlichen, Schikanen, sexuelle Nötigung und körperliche Gewalt sind Alltag in Torgau. Das bekommt auch Ilona schnell zu spüren.

Nach ihrer Rückführung in den Jugendwerkhof Wolfersdorf am 25. Mai 1976 kommt es zu vier weiteren sogenannten Entweichungen. Am 20. Mai 1977 stellt der Direktor von Wolfersdorf deshalb den Antrag auf Zweiteinweisung nach Torgau.

Am 8. Dezember 1977 wird Ilona nach Wolfersdorf zurückgebracht, wo sie bis zu ihrer Volljährigkeit im Jahr darauf bleibt. Anschließend wird ihr Arbeit im Metallbereich zugewiesen. Als sie sich jedoch über die ständigen Kontrollen und Vorverurteilungen der Kollegen und Vorgesetzten beschwert, wird sie entlassen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gerät Ilona auch ins Visier der Stasi. Sie kommt in Haft, ihre erste Ehe geht in die Brüche. Nach dem Ende der DDR findet sie Arbeit in einer dänischen Uniformschneiderei.

„die Fenster waren alle vergittert und die Türen verschlossen“
„Leider habe ich erst in dieser Zeit gemerkt wie sehr ich meine Vergangenheit verdrängt habe und mit welcher Wucht sie mich einholt.“
Ilona fängt an ihre Zeit in Torgau aufzuarbeiten. Dazu gehört auch, dass sie Interviews mit Abiturienten führt und als Zeitzeugin bei Ausstellungseröffnungen auftritt.
Spürbar wird dies für Ilona besonders ab 2011, als die dänische Regierung die Grenzkontrollen, die sie auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit passieren muss, verstärkt. Der Anblick der uniformierten dänischen Grenzpolizisten wird für sie unerträglich. Sie verfällt in Depressionen, verlässt das Haus nicht mehr, verliert ihre Arbeit und lässt Termine bei Ärzten und Behörden platzen.

Als sie denkt jetzt geht es wieder bergauf, sucht sie sich eine Arbeit in der Nähe ihres Wohnortes in Schleswig-Holstein als Näherin.

Ilona muss für 7 Wochen in eine stationäre Reha. Das sind 7 Wochen Hölle, die sie als arbeitsunfähig verlässt. Wieder zuhause sucht sie sich eine Therapeutin. Zum eigenen Wohl hört sie mit der Zeitzeugenarbeit auf. Anfang 2017 fliegt Ilona zu einer Freundin nach Oklahoma in die USA.

In den USA erlebt Ilona wie es ist ohne Stigma und mit der Anerkennung der anderen zu leben. Erstmals nach langer Zeit kann sie unbeschwert in Geschäfte gehen. Sie schließt sogar Freundschaft mit dem Sheriff und lässt sich das Polizeiauto zeigen. Selbst das Einsteigen in den Streifenwagen verursacht keine Panik.

Mit neuer Kraft beginnt Ilona nach ihrer Rückkehr wieder an Projekten gegen das Vergessen von Demütigung, Bestrafung und willkürlichem Wegsperren in der DDR-Heimerziehung teilzunehmen. Sie beteiligt sich an einem Theaterstück des sächsischen Staatsschauspiels Dresden mit demTitel „Der Weg ins Leben“.

„Ich war 2,5 Jahre nur mit mir beschäftigt, meine Familie hat mich in dieser Zeit immer wieder versucht aufzubauen.“

Bei ihrer Heimeinweisung ist Ilona E. 13 Jahre alt.

Ilona E. im Alter von 15 Jahren.

Ilona E. bei der Arbeit in einer dänischen Uniformschneiderei, 2000er Jahre.

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