Zeitzeugen gesucht

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Zeitzeugen gesucht

Ralf W.

„dieses Heim ist für mich eine einzige Katastrophe gewesen“

„[…] ich geschlagen werde [und] miterleben muss, wie die Mutter geschlagen wird“

Geboren 1955 in der Nähe von Magdeburg. Seine Mutter arbeitet als Verkäuferin. Sein Vater ist Alkoholiker. Regelmäßig sind er und die Mutter den Gewaltexzessen des Vaters ausgesetzt.

Die Ehe wird 1959 vor Gericht geschieden. Noch vor der Scheidung flüchtet der Vater in die Bundesrepublik. Bis dahin zeigt das Jugendamt wenig Interesse für die problematische Lage des Kindes. Als Ralf ein Jahr verfrüht 1961 eingeschult wird, ist er der Kleinste in der Klasse. Seine Angstzustände und Schlafstörungen haben sich über Jahre zu einem massiven Problem entwickelt.

 

Mit der Einschulung taucht unterdessen ein weiteres Problem auf. Durch den täglich um 4.00 Uhr beginnenden Arbeitstag der Mutter ist er in der Schule überfordert und kann die schulischen Leistungen nicht erbringen. Die Jugendhilfe sieht seine Betreuung zuhause als nicht mehr gewährleistet. Gegen den Willen der Mutter wird noch im selben Jahr seine Heimeinweisung beantragt und genehmigt.

Im Kinderheim hat Ralf von Anfang an Probleme. Er zieht sich zurück und vermisst vor allem seine Mutter. Das von den Erziehern geduldete Prinzip der Selbsterziehung wird für ihn zunehmend problematischer, da er in der Hackordnung weit unten steht.
Zu diesem Zeitpunkt ist Ralf sieben Jahre alt. Das Bettnässen wird mit Freizeitentzug sowie Essens- und Getränkeentzug bestraft.
Er wird zum Außenseiter. 1963 wird Ralf in ein Kinderheim bei Berlin verlegt. Als er nur ein Jahr später in das Spezialkinderheim Altengottern bei Mühlhausen eingewiesen wird, zerstört das seine emotionalen Bindungen vollkommen.
Sein Verhalten ist dementsprechend orientierungslos. Hinzu kommt, dass man unterstellt, dass Ralf an einer latenten Epilepsie und einem hirngenetischen Defekt leidet.
„schaffen die mich in ein Krankenhaus für Psychiatrie und machen mit mir Versuche, ob ich geisteskrank bin“
Wegen „Verhaltensstörungen“ wird Ralf im Frühjahr 1965 vorübergehend in die Psychiatrie und Neurologie Pfafferode bei Mühlhausen zur Beobachtung eingewiesen.
Die Mutter erfährt davon erst zwei Wochen später als ihre Zustimmung für eine Spezialuntersuchung benötigt wird. Als Ralf zurück ins Spezialkinderheim kommt, verhöhnen ihn die anderen Heimkinder. Die Heimleitung beantragt seine Unterbringung im Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie. Im Mai 1966 kommt er für einige Wochen zur Beobachtung in das Aufnahmeheim des Kombinates in Berlin-Oberspree. Das Aufnahmeheim ist eine geschlossene Einrichtung.
Ralf erinnert sich an die Einnahme von Medikamenten. Es heißt, sein „Fehlverhalten“ sei durch eine „hirnorganische Schädigung“ verursacht.
Zurück bei der Mutter, die wieder geheiratet hat, kam Ralf im September 1966 in eine Schule in Hoyerswerda. Die Direktorin stellt ihn mit den Worten „Ralf kommt aus einem Heim für schwererziehbare Kinder“ seiner Klasse vor. Dies führt dazu, dass ihm für alles, was an negativen Ereignissen an der Schule passiert, mindestens eine Mitschuld gegeben wird. Zu gleichaltrigen Kindern hat er kaum Kontakt. Als Ralf 12 Jahre alt ist, verweigert die Lehrerschaft der Schule, mit dem Hinweis er sei zu schwierig und störe ständig den Unterricht, seine weitere Unterrichtung. Darüber hinaus kommen Vorwürfe über Sachbeschädigung und Diebstahl hinzu. Im Januar 1967 wird für ihn erneut Heimerziehung im Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie angeordnet.
Von November 1967 bis April 1968 verbleibt Ralf in der Aufnahmestation des Kombinates in Berlin-Oberspree. Im April 1968 wird er in das dem Kombinat angehörende Heim nach Wertpfuhl gebracht. Die Mutter stellt einen Antrag auf Entlassung des Sohnes aus der Heimerziehung.
Im Januar 1969 haben die Mutter und der Stiefvater einen Arzt in Rothenburg konsultiert, welchen sie um eine gutachterliche Stellungnahme bitten. Das Gutachten des Arztes bescheinigt, dass Ralf weder an einer latenten Epilepsie noch an einem hirnorganischen Defekt leidet. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Eltern und der Jugendhilfe. Die Eltern haben nichts in der Hand. Sie dürfen den Namen des Arztes nicht preisgeben, da sie dadurch seine Berufszulassung gefährden würden. Mitte September 1969 weist der zuständige Jugendhilfeausschuss den Entlassungsantrag der Mutter endgültig zurück. Die Mutter legt erneut Beschwerde ein. Ralf ist inzwischen in sechs verschiedenen Heimen gewesen. Der Jugendhilfeausschuss begründet die Einweisung in das Sonderheim Borgsdorf mit der „heilpädagogischen Betreuung des Schülers“, die sich „entgegen der Ansicht seiner Mutter […] günstig“ auf ihn auswirken wird. „Ralfs Verhalten zuhause“ könne „nicht Wertmesser für die Entscheidung über die weitere Heimerziehung sein“. Unter Androhung einer Ordnungsstrafe muss im Oktober 1969 die Mutter ihren Sohn in das Sonderheim Borgsdorf bringen.
Im Mai 1970 fordert der Heimleiter in Borgsdorf Ralf dazu auf, sich in der örtlichen Umgebung seines Heimatortes um einen Arbeitsplatz zu bemühen. Bereits Ende Mai 1970 legt er einen Arbeitsvertrag mit dem Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ vor. Offenbar steht seine Entlassung aus der Heimerziehung zum Schuljahresende bevor.
Ohne Angabe von Gründen wird Ralf im Juli 1970 in den Jugendwerkhof Hummelshain verlegt. Die Mutter erfährt davon erst zwei Wochen später. Aus seiner Akte erfährt Ralf 32 Jahre später den Grund seiner Einweisung.
Im Jugendwerkhof Hummelshain absolviert Ralf eine Teilfacharbeiterausbildung zum Zerspaner. Nach einer Entweichung beantragt der Direktor in Hummelshain am 17. September 1971 seine Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Im Antrag wird darüber hinaus auf Disziplinschwierigkeiten hingewiesen, die Ralf bereits in anderen Heimen gehabt habe und die mit einer „Milieuschädigung in früher Kindheit“ zu erklären seien.
„Zärtlichkeit fehlte einfach […] das Kuscheln mit meiner Mutter“
„Ich wollte eigentlich nicht mehr leben“
Die Erziehungsmethoden in Torgau sind ihm nicht fremd. Im Gegenteil: Für ihn wird alles zunehmend berechenbarer. Die gewaltsame Überschreitung aller Grenzen des Erträglichen in Torgau zieht einen Gewöhnungseffekt nach sich.

Körperliche und psychische Schmerzen können ihn nicht mehr erschüttern. Er lernt, selbst rigoros und skrupellos zu sein. Er wird zum Sportfunktionär und Gruppenleiter ernannt. Die Rückführung in den Jugendwerkhof Hummelshain erfolgt im Februar 1972. Seine Eltern beantragen erneut seine Entlassung aus der Heimerziehung. Nach seiner Rückkehr zu den Eltern im Mai 1972, nimmt er im Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ eine Tätigkeit als Hilfsschlosser auf. Im gleichen Jahr gerät Ralf in eine Schlägerei. Gegen ihn wird wegen Körperverletzung ermittelt. Vom 26. Oktober bis 10. November 1972 befindet er sich in der Untersuchungshaftanstalt Cottbus. Eine Vielzahl ärztlicher Gutachten führen zur Einstellung des Verfahrens. Gleichwohl ordnet die Staatsanwaltschaft ohne belastbare Gründe erneut Heimerziehung an. Die Heimerziehung wird wegen einer Patenschaft der Arbeitsbrigade, mit einer Bewährungsfrist bis zur Volljährigkeit ausgesetzt.

 

Als Ralf im Juli 1973 nach Ungarn in Urlaub fahren will, greifen ihn auf dem Nachhauseweg von einer Discoveranstaltung am Vorabend seiner Reise mehrere Polizisten an. Als sie ihn an den Haaren zu Boden ziehen, wehrt er sich. Ermittlungsverfahren und Verurteilung wegen „Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Staatsverleumdung“ folgen. Ralf ist fast 18 Jahre alt. Er erhält eine Freiheitsstrafe von 20 Monate im Jugendstrafvollzug Ichtershausen.

 

 

Im Oktober 1978 wird durch den Generalstaatsanwalt seine Eintragung im DDR-Strafregister gestrichen. Ralf gilt nun nicht mehr als vorbestraft, was zur Folge hat, dass er im Mai 1979, mit 25 Jahren zur Nationalen Volksarmee eingezogen wird. Nach sechs Monaten ohne Ausgang und Urlaub, kommt er von einer Dienstreise verspätet in die Kaserne zurück. Wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe wird er vom Militärstaatsanwalt zu drei Monaten Arrest in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt verurteilt.

 

 

Nach seiner Entlassung aus der NVA 1981, muss er auf Anweisung der Staatsorgane, als Eimerschmied für Großtagebaugeräte arbeiten. Hier wird er später Lehrfacharbeiter und arbeitet bis 1991 in diesem Beruf. Im Juli 1990 wird Ralf in den ersten frei gewählten Betriebsrat des Gaskombinates „Schwarze Pumpe“ gewählt. Als sich durch den Strukturwandel abzeichnet, dass tausende Arbeitsplätze weg rationalisiert werden, sucht er sich als selbstständiger Zimmermann auf dem Bau eine neue Herausforderung. Bei einem Arbeitsunfall durchtrennt er sich mit einer Handkreissäge den rechten Oberschenkel teilweise und wird wegen der Unfallfolgen berufsunfähig.

 

Bereits 1992 wird Ralf für die politisch motivierte Inhaftierung vom Oktober 1972 und die anschließende politische Haft bis 1975 rehabilitiert. Danach beantragt er die Rehabilitierung für seine Unterbringung in den verschiedenen Erziehungseinrichtungen der Jugendhilfe von 1961 bis 1972.

Im Dezember 2004 erwirkt Ralf vor dem Kammergericht Berlin seine strafrechtliche Rehabilitierung für die Unterbringung im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Einen Rechtsanwalt hat er nicht. Verhandelt wird in Berlin, da hier das Ministerium für Volksbildung ansässig war. In der Urteilsbegründung wird erstmals auf die haftähnlichen Bedingungen in Torgau hingewiesen. Die Einweisung und Unterbringung wird als rechtsstaatswidrig und menschenunwürdig eingestuft. Das Urteil wird deshalb wegweisend für alle Betroffenen.

 

Nach der Ablehnung seines Rehabilitierungsantrages für die Zeit in den anderen Spezialheimen durch das OLG Naumburg im März 2008, reicht Ralf Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein und rügt unter anderem, dass den ehemaligen DDR-Heimkindern im Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) keine rechtliche Möglichkeit eingeräumt wird, mit welchem diese, die gegen sie eingeleiteten Maßnahmen der DDR-Jugendhilfe einer rechtsstaatlichen Überprüfung zuführen könnten.

 

Am 13. Mai 2009 nimmt das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von Ralf an. In der Folge wird das SED- Unrechtsbereinigungsgesetz dahingehend ergänzt, dass allen Heimkindern der DDR das Recht auf rechtsstaatliche Überprüfung, der gegen sie von der DDR-Jugendhilfe angewiesenen Heimunterbringungen, gesetzlich garantiert ist.
Anders als erhofft führt die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu einer Rehabilitierung, woraufhin Ralf 2010 eine erneute Verfassungsbeschwerde einreicht. Im Zentrum steht diesmal vor allem die willkürliche Auslegung der Rehabilitierungsvorschriften durch das OLG Naumburg.

Das Bundesverfassungsgericht wird 2014 in der Begründung seines Beschlusses feststellen, dass die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in den Heimeinrichtungen der DDR, rehabilitierungsfähiges Unrecht darstellt, insofern die Unterbringung sachfremden Zwecken gedient hat. Der Gesetzgeber ist damit aufgefordert, die Sachfremdheit für Unterbringungen in der DDR-Heimerziehung zu definieren.

 

Im Dezember 2014 wird Ralf für seine Heimunterbringung von 1961 bis 1966 durch das OLG Naumburg rehabilitiert. Das Verfahren für die Unterbringung von 1967 bis 1972 wird dagegen an das Landgericht nach Cottbus abgegeben. Nachdem dieses die Rehabilitierung abgelehnt hat, liegt das Verfahren nunmehr beim Brandenburgischen Oberlandesgericht und ist noch nicht entschieden.

 

Heute lebt Ralf in Sachsen. Er ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Durch die Haftfolgen und die daraus entstandenen gesundheitlichen Schäden, ist Ralf seit 2005 vollständig erwerbsgemindert. Er engagiert sich stark in der Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung und unterstützt ehrenamtlich die Bildungsarbeit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau wo er kann.

„viele Wege führten nach Torgau, aber keiner kannte den Weg zurück“

Das Foto entsteht im Sommer 1971 kurz vor der Einweisung von Ralf W. in den GJWH Torgau. Ralf W. ist damals 16 Jahre alt.

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