Zeitzeugen gesucht

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Zeitzeugen gesucht

Sonja S.

„mit den Erziehern hat man keine Freundschaften geschlossen“
„wir wollten einfach nur weg“

Geboren im Juli 1967 in Dresden. Als sie acht Jahre alt ist, stirbt die erst 44jährige Mutter. Die Schule war der Meinung, dass der Vater nicht in der Lage sei, dass Kind zu erziehen und macht darauf aufmerksam. Sie kommt ins Kinderheim. Von nun an ist das Leben der fast Neunjährigen von Einsamkeit geprägt. Ihr fehlt die mütterliche Zuneigung.

Drei Jahre bleibt sie im Kinderheim Sebnitz. Hier läuft alles geregelt. Sonja besucht die Schule im Ort und im Sommer das Stadtbad. Sie schließt Freundschaften. 1979 wird die nun Zwölfjährige in das Kinderheim Drehsa verlegt. Hier sind die Zustände anders. Beim Duschen müssen die Mädchen die Blicke männlicher Erzieher ertragen. Sie dürfen ihnen nicht den Rücken zudrehen.
Zwei Jahre verbringt Sonja im Kinderheim Drehsa. Einmal flieht sie zusammen mit einer Freundin, stellt sich wenig später aber selbst, weil sie kein Ziel hat. Sie weiß nicht wohin.

Sie kann sich nicht ins Kollektiv einfügen und erzählt im Staatsbürgerkundeunterricht, dass sie beim Besuch ihrer älteren Schwester ARD und ZDF schaut. Für Sonja wird die Einweisung in einen Jugendwerkhof angeordnet.

Bereits auf dem Weg zum Durchgangsheim in Dresden erfährt die Fünfzehnjährige Gewalt. Auf die Frage, wo es hingeht, antwortet der Erzieher mit Schlägen ins Gesicht.
„er hat mich so verdroschen, dass mein Gesicht wirklich angeschwollen war“
Angekommen, wird sie nach einer erniedrigenden Einweisungsprozedur in eine Zelle gesperrt. Sie fühlt Angst, Scham und Einsamkeit. Eine Woche wartet sie in der Zelle auf ihre Einweisung in den Jugendwerkhof Gerswalde.
Am 22. September 1982 wird Sonja in den Jugendwerkhof Gerswalde eingewiesen. Sie erlebt hier keine schöne Zeit. Häufige Gewalt, harte Arbeit, politische Indoktrination, Willkür und Beleidigungen gehören zur Tagesordnung.
Aufgrund kleiner Regelverstöße, wie unerlaubtem Sprechen oder Rauchen, muss Sonja mehrmals die Nächte in einer unwürdigen Arrestzelle verbringen. Der winzige Raum ist lediglich mit einer Holzpritsche, einem Hocker und einem Fäkalieneimer ausgestattet.

Einmal wird sie während einer Arrestzeit von einem männlichen Erzieher dermaßen verprügelt, dass sie anschließend medizinisch behandelt werden muss. Später wird Sonja unter Androhung weiterer Gewalt genötigt eine Erklärung zu unterschreiben, in der es heißt, sie habe sich sämtliche Verletzungen selbst zugefügt.

„da hatte ich Todesangst“
„das Schlimme ist, man hat gedacht, es sei normal“
Während ihrer 22 Monate in Gerswalde absolviert Sonja eine Teilausbildung zur Gärtnerin. Am 30. Januar 1985 darf sie in ein Jugendwohnheim für Mädchen ziehen, weil sie als vollwertige Arbeitskraft im Krankenhaus putzen muss. Sie genießt ihre Freizeit und darf die Nachmittage in der Stadt verbringen. In dieser Zeit lernt sie ihren ersten Freund kennen. Zu oft missachtet sie die Ausgangssperre von 20 Uhr. Sie muss zurück in den Jugendwerkhof. Diesmal aber nach Burg.
Bis zu ihrer Volljährigkeit arbeitet Sonja die nächsten sechs Monate jeden Tag acht Stunden. Zuerst putzt sie, später stellt sie im Dreischichtsystem Dauergebäck im “VEB Burger Knäckewerke” her. Inzwischen ist sie abgehärtet und kann sich anpassen. In zehn Jahren hat sie gelernt zu funktionieren.
Im Juli 1985 wird Sonja 18. Sie wird aus Burg entlassen. In Dresden bekommt Sonja eine Stelle in einer Rehabilitationseinrichtung für geistig behinderte Kinder. Sie bezieht eine eigene Wohnung, gewinnt Freunde, lernt einen Mann kennen und bekommt 1987 ihre Tochter. Nach der Deutschen Einheit holt sie nötige Berufsqualifizierungen nach. Mit dem Ende der DDR fühlt sie eine Erleichterung.
Aufgrund der Gewalterfahrungen im Arrest leidet Sonja noch heute unter Panik- und Angstzuständen, die sie psychologisch behandeln lässt.

Heute lebt sie in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt und arbeitet als pädagogische Mitarbeiterin. Sie betreut Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Seit 2008 ist Sonja in ihrer Freizeit aktive Sängerin im Gospelchor der Schlosskirche zu Wittenberg. Sie ist Gründungsmitglied der Betroffeneninitiative „Missbrauch in DDR-Heimen“ und engagiert sich als Zeitzeugin in der historisch-politischen Bildungsarbeit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.

„die Angst ist geblieben, aber man konnte endlich mal was sagen.“

Sonja S. im Alter von 4 Jahren.

Im August 1974 wird Sonja S. eingeschult.

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