Zeitzeugen gesucht

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Zeitzeugen gesucht

Stefan M.

„Meinen Eltern wurde das Erziehungsrecht entzogen. Ich war Vollwaise.“
„ich war immer ungezogen“

Geboren 1965 in Schönberg. Wegen häuslicher Vernachlässigung wird bereits 1967 für ihn und seine jüngere Schwester die Heimerziehung angeordnet. Die Kinder werden aus der Familie genommen.

Stefan verbringt von nun an die Zeit bis zu seinem 18. Lebensjahr in den Einrichtungen der DDR-Jugendhilfe: Kinderkrippe, Vorschulheim, Kinderheim, Spezialkinderheim, Kombinat der Sonderheime, Jugendwerkhof, Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.

 

Von 1967 bis 1973 wird Stefan im Säuglingsheim Degtow bei Grevesmühlen untergebracht, von 1971 bis 1973 in einem Vorschulheim bei Nienhagen. Die Einweisung in das Kinderheim Rerik erfolgt am 31. August 1973. Laut Entwicklungsbericht des Kinderheimes sei er „besonders ordentlich mit seinen Schulsachen, liebenswert, aufgeschlossen und aktiv, sofern er individuelle Zuwendung erfährt“. Er leidet aber unter „Konzentrationsstörungen“, „im Umgang mit seinen Klassenkameraden ist er impulsiv und aggressiv“.

Die vergangenen Jahre und die Erlebnisse in seiner frühen Kindheit, haben Spuren hinterlassen. Stefan sehnt sich nach der fehlenden Geborgenheit. Zu den Eltern hat er keinen Kontakt. Er bekommt kaum Post. Das erkennen auch seine Erzieher. Ein Adoptionsverfahren wird eingeleitet. Eine Adoptivfamilie will Stefan aufnehmen. Er verbringt dort mehrere Wochenenden und hat große Hoffnungen, in der Familie bleiben zu können. Als die Adoption aufgrund einer Erkrankung der Adoptivmutter schließlich doch nicht zustande kommt, bricht für Stefan eine Welt zusammen.
Nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Jungen seiner Gruppe wird er von zwei Erzieherinnen schwer geschlagen. Stefan wird kurz nach dem Vorfall verlegt. Die Erzieherinnen erhalten lediglich einen Verweis.
Wegen „auffälliger Störungen“, die die Heimleitung auf fehlende Geborgenheit im Säuglingsalter zurückführt, soll Stefan einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie vorgestellt werden. Es folgt der Antrag auf Einweisung in das Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie in Berlin.

„mit Tränen in den Augen habe ich da gesessen: Ich bin abgehauen aus Werftpfuhl“

Von März bis Mai 1978 wird Stefan in das Aufnahmeheim des Kombinates zur Beobachtung eingewiesen. Von hier aus kommt er in das Sonderheim Werftpfuhl und bleibt hier bis August 1979. Hier entfernt er sich immer weiter in das umliegende Gelände.
Er schafft es schließlich bis nach Berlin und schlägt sich dort für einige Tage durch, bis er nichts mehr zu essen hat und den Hunger nicht mehr erträgt. Er stellt sich freiwillig der Volkspolizei.
Stefan wird für zwei Tage ins Durchgangsheim Berlin-Altstralau gebracht, bevor er zurück ins Sonderheim Werftpfuhl verlegt wird. Im Kombinat der Sonderheime wird entschieden, dass seine weitere Erziehung in einem Spezialkinderheim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche erfolgen soll.
Die Einweisung in das Spezialkinderheim Krassow bei Wismar erfolgt am 3. August 1979. Hier bekommt er täglich die Medikamente Finlepsin und Protazin, ein Anti-Epileptikum und ein Beruhigungsmittel, verabreicht. Er leidet unter starken Bauchschmerzen und allgemeinem Unwohlsein nach der Einnahme der Medikamente.
Aufgrund von „aggressivem Verhalten gegenüber Mitschülern und Erwachsenen, geringer Bereitschaft zur Erfüllung von gestellten Forderungen sowie tätlichen Auseinandersetzungen mit körperlich schwächeren Schülern“ wird Stefan im Juli 1981 in den Jugendwerkhof Olgashof eingewiesen.
„das war hier eine meiner schlimmsten Zeiten, die ich erlebt habe in meinem Leben.“

„wenn ich mal wieder Scheiße gebaut habe, [habe ich] vom Erzieher ein paar auf’s Maul gekriegt“

In Olgashof beginnt er nach dem Abschluss der 8. Klasse eine Ausbildung als Feldbauhelfer. Von den anderen Jugendlichen zieht er sich zunehmend zurück, fällt aber durch provokantes Auftreten, Uneinsichtigkeit und Verstöße gegen die Heimordnung auf. Er entwickelt sich zum „Störer des Kollektivs“. Er ordnet sich nicht ein. Mehrmals wird er mit Freizeitisolierung und Arrest bestraft.
Im Oktober 1982 beantragt die Direktion des Jugendwerkhofs Olgashof beim Ministerium für Volksbildung seine Verlegung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Damit begründet, dass andere Maßnahmen in seinem Fall nicht erfolgreich seien. Er sei unberechenbar, aggressiv und heize die Stimmung unter den anderen Jugendlichen an. „Seine Herausnahme aus dem Kollektiv zur Herstellung der Erziehungsbereitschaft“ sei „dringend erforderlich“.
Am 13. Januar 1983 erfolgt die Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Die Einweisung erfolgt trotz der bekannten Ursachen seiner Schwierigkeiten: „Die Vernachlässigung im Säuglingsalter gepaart mit der Perspektivlosigkeit und das Fehlen von positiven Beziehungen.“ In Torgau wird Stefan dazu angehalten, Briefe zu schreiben. Doch an wen? Er hat keine Familie, keine Freunde oder Verwandten, denen er schreiben könnte. Ende Mai kommt er zurück nach Olgashof. Er schließt seine Teilfacharbeiterausbildung als Feldbautechniker ab. Am 12. August 1983 wird Stefan mit 18 Jahren aus der Heimerziehung entlassen. Er zieht nach Büttlingen im Kreis Grevesmühlen. Dort wird ihm Arbeit in einer LPG durch das Referat Jugendhilfe zugewiesen. Als Heimkind erlebt er immer wieder Anfeindungen im Betrieb, wird ständig beobachtet, beschuldigt, kommt selbst nicht zur Ruhe. In seiner Freizeit baut sich Stefan einen engen Freundeskreis auf.
Die Freunde sind ihm zu DDR-Zeiten eine große Hilfe und werden zu seinem Lebensmittelpunkt. Hier fühlt er sich zum ersten Mal geborgen und akzeptiert.
Als sich zwei seiner besten Freunde 1995 das Leben nehmen, bricht alles wieder auf. Die Vergangenheit holt Stefan ein. Er muss in eine Rehabilitationsklinik und zur Kur nach Schwalbach im Taunus.
Lange Zeit arbeitet Stefan im Tierpark Rostock. Seine Leidenschaft und sein Ausgleich sind Metall-Musik und Fotografie. Oft fährt er zu Festivals. Hier kann er die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend verdrängen. Durch eine Krebserkrankung wird er arbeitsunfähig. Heute ist er Rentner. Seine neue Leidenschaft ist das Radfahren. Im Sommer unternimmt er monatelange Reisen mit seinem Fahrrad. Unterwegs in ganz Europa, durchstreift er Natur und Kultur anderer Länder und lernt immer wieder neue Menschen kennen. Für die Zeit im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau und im Jugendwerkhof Olgashof ist Stefan rehabilitiert.
„unser schönes Lied gesungen: ‚ich ließ mein Herz in Boltenhagen‘ [dann] sind wir dort eingeritten“

Stefan M. als Jungpionier im Kinderheim Rerik im Alter von 8 Jahren.

Stefan M. (2. v. links) 1973 bei einem Ausflug im Kinderheim Rerik.

Stefan M. (stehend) zu Weihnachten im Kinderheim Rerik.

Passfoto von Stefan M. aus seinem ersten Personalausweis.

Stefan M. im Alter von 44 Jahren. Er arbeitet lange Zeit als Tierpfleger im Tierpark Rostock.

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